7:1 gegen Brasilien: Die deutsche Nationalmannschaft und ihr Jahrhundertspiel - WELT (2024)

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Mitten in der Nacht schreckt Professor Tim Meyer aus dem Schlaf. Es knallt und zischt, und vor dem Fenster seines Hotelzimmers sprühen Funken. Sein erster Gedanke: "Hoffentlich wachen die Spieler nicht auf." Und dann: "Was zum Teufel ist da los?" Als Arzt der Nationalmannschaft denkt er in dieser Reihenfolge; immer erst ans Team. Vor allem vor so einem wichtigen Spiel.

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Meyer blickt auf die Uhr. Draußen, vor dem "Cesar Business Hotel" in Belo Horizonte, war schon den ganzen Tag der Teufel los. Aber dass die Brasilianer jetzt ein Feuerwerk zünden, 3.00 Uhr am Morgen? Der Mediziner schüttelt den Kopf, als er Polizisten sieht, die dem Treiben vor dem deutschen Mannschaftshotel tatenlos zusehen. Aber gut, so ist es eben, wenn die "Selecao" spielt: Ausnahmezustand, 24 Stunden am Tag.

Die Medien haben es das "vorgezogene Endspiel" genannt, auch wenn es erst das Halbfinale ist. Deutschland gegen Brasilien im Land des fünfmaligen Weltmeisters, mehr geht nicht bei einer Fußball-WM. Meyer zuckt mit den Schultern und geht zurück ins Bett. Der letzte Gedanke, bevor er wieder einschläft: "Hoffentlich sind die Spieler nicht aufgewacht." Noch 14 Stunden bis zum Anpfiff.

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Auch Thomas Mai hat das Feuerwerk gehört, trotzdem ist er sofort hellwach, als am nächsten Morgen um acht Uhr sein Wecker klingelt. Die Sonne ist gerade aufgegangen, und Mai hat noch vor dem Duschen eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Bis spät in die Nacht war der Zeugwart aufgeblieben, hatte die Koffer und Kisten gepackt, in der die tausend Dinge transportiert werden, die die Nationalmannschaft so braucht auf Reisen: Aufwärmleibchen, Stutzen, Unterziehshirts, Hymnenjacken. Nun muss er die Trainingssachen verteilen, in denen die Spieler sich vormittags warm machen werden. Auch die Trainer bekommen frische Kleidung. 29 Wäschepäckchen vor 29 Türen, wie immer. Mai mag die Ruhe in den Fluren, wenn die meisten noch schlafen. Der Bundestrainer hat neun Uhr als Weckzeit angeordnet. Um 17 Uhr wird das Spiel angepfiffen.

"Massaker auf Weltniveau"

Als die Spieler eintrudeln, sitzt Mai schon beim Frühstück. Philipp Lahm wirkt konzentriert, Lukas Podolski ist zu Scherzen aufgelegt, einige sehen noch ein wenig verpennt aus. Seit Tagen hat sich die Spannung aufgebaut, der Zeugwart kennt das. Seit 1992 ist er dabei, die WM in Brasilien ist sein zwölftes Turnier. Ist irgendetwas anders vor diesem wichtigen Spiel? Alles wie immer, denkt Mai und schmiert sich noch ein Brötchen. Noch acht Stunden bis zum Anpfiff.

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Auch Wolfgang Wirthmann hat später oft darüber nachgedacht, ob da etwas war. Ob das "Massaker auf Welt-Niveau" (AS) schon zu spüren war am Vormittag jenes 8. Juli 2014. Auf jeden Fall hatte der "Reisemarschall" des Deutschen Fußball-Bundes einen Plan B in der Tasche, das gehört zu seinem Job. Er hatte vorab extra eine Mitarbeiterin nach Brasila geschickt, um sich nach Quartieren umzuschauen. Nicht, dass es ihm an Optimismus gefehlt hätte, dazu strahlte die deutsche Mannschaft zu viel Selbstbewusstsein aus. Doch wer seit 1978 im DFB-Auftrag um die Welt reist, der hat alles erlebt. Also ist Wirthmann auf Nummer sicher gegangen – in Brasilia findet das Spiel um Platz drei statt.

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Doch da will niemand hin. Rio ist das Ziel, und die brasilianische Mannschaft die letzte Hürde. Ohne den verletzten Superstar Neymar, aber mit 200 Millionen Fans im Rücken. Wirthmann hat gespürt, wie sich die Atmosphäre gewandelt hat in den vergangenen Tagen. In Santo André, wo das deutsche Team sein Campo Bahia aufgeschlagen hat, wurden sie bei der Abreise nach Belo Horizonte noch bejubelt. 700 Kilometer weiter südwestlich sind die Menschen zwar freundlich. Doch je näher das Spiel rückt, desto reservierter werden sie. "Fußball ist in Brasilien Religion, und die Selecao das Heiligtum", sagt Wirthmann. Nach dem Mittagessen unterschreibt er die Hotelrechnung für den 70-köpfigen DFB-Tross. Nur die Extras, die Zimmer übernimmt das Organisationskomitee. Danach blättert er die Bordkarten für den Rückflug ins Mannschaftsquartier durch. Alle da. Noch sechs Stunden bis zum Anpfiff.

Die DFB-Maschinerie beginnt zu arbeiten

"Ja, irgendwas war da", sagt Tim Meyer. Ungewöhnlich selbstbewusst waren die Spieler in den vergangenen Tagen, findet er, da waren keine Zweifel zu spüren, obwohl der Gegner Brasilien heißt, Rekordweltmeister und Hausherr der WM. Das wunderte ihn schon, aber nun hat er keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Die letzten Vorbereitungen laufen an, die DFB-Maschinerie beginnt zu arbeiten. Meyer rührt die Getränke an – Mineralienpulver mit stillem Wasser – und füllt sie in Flaschen und einen Riesenbottich mit Zapfhahn, der später in der Kabine stehen wird. "Thomas", hat Meyer zu Zeugwart Mai gesagt, "hab bitte ein Auge auf den Bottich."

Der hat genickt und das schwere Ding in den schwarzen Van gewuchtet, neben die silbernen Kisten mit Trikots, Stutzen, Schuhen, Hosen, Trainingsjacken. Er gehört zum Vorauskommando, das schon vier Stunden vor dem Anpfiff Richtung Stadion aufbricht. In der Kabine muss alles fertig sein, wenn die Spieler kommen. Jedem Spieler wird er ein Trikot an seinen Platz hängen, bei Philipp Lahm noch die Kapitänsbinde und den Wimpel. Auch der Getränkebottich, um den der Mannschaftsarzt sich Sorgen macht, muss dann dort stehen: "Das Spiel war so überhöht im Land, da ist es durchaus denkbar, dass jemand was ins Trinken mischt", sagt Meyer.

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Der Mediziner fährt mit der Mannschaft. Zwei Stunden vorher muss sie im Stadion sein, 30 Minuten eher als bei gewöhnlichen Länderspielen, das will der Weltverband Fifa so. Meyer sitzt in der dritten Reihe rechts, neben seinem Freund Hans-Dieter Hermann, dem Teampsychologen. Vor ihm die Trainer, dahinter die Spieler, die meisten mit Kopfhörern auf den Ohren, die Blicke ins Leere gerichtet. Seine Arzttasche hat er dabei, den schweren Notfallrucksack unten in den Gepäckfächern verstaut. 60 Medikamente hat er mit nach Brasilien genommen, unzählige Binden, Pflaster, Spritzen. Heute lief bislang alles glatt, niemand hat sich krank gemeldet, nur die üblichen Symptome der Nervosität: Bauchschmerzen, Kratzen im Hals, Übelkeit. Der Bus bahnt sich den Weg durch ein Meer aus Menschen in Gelb und Grün. Als er ankommt, ruft er einen Freund an. Der hat noch eine Karte für das Spiel bekommen. Meyer freut sich. Noch zwei Stunden bis zum Anpfiff.

Als die Mannschaft im Estádio Governador Magalhães Pinto eintrifft, ist Thomas Mai längst fertig mit seiner Arbeit. Er hat draußen auf dem Platz noch Erinnerungsfotos geschossen von der Arena, in der gerade die Tore geöffnet wurden und die Zuschauer langsam ins weite Rund strömen. Dann ist er schnell wieder in die Kabine zurückgekehrt. Während die Spieler sich umziehen, führt Wolfgang Wirthmann die deutsche Delegation in den Ehrengastbereich. Stolze Blicke ernten sie von den Brasilianern, einige fast ein wenig mitleidig. "Die Deutschen? Chancenlos", ist der Tenor. Auch als er auf der Tribüne Platz nimmt, ist die Euphorie um ihn herum grenzenlos. "Wir werden ja sehen", denkt er. Noch 15 Minuten bis zum Anpfiff.

Ein Arm voll Hymnenjacken

Mai hat wie immer als letztes die Kabine verlassen und hinter sich abgeschlossen. Nun eilt er durch den Spielertunnel. Gleich beginnen die Hymnen, da will er wie immer neben dem Physiotherapeuten Wolfgang Bunz stehen. Aus Aberglaube. Als die Brasilianer singen, dröhnen ihm die Ohren. Dann muss er auf das Feld. Die Spieler schmeißen ihm ihre Trainingsjacken zu, posieren für das Mannschaftsfoto. "Hymnenjacken", heißen die Dinger. Noch zwei Minuten bis zum Anpfiff.

Tim Meyer setzt sich zwischen seinen Kollegen Dr. Josef Schmitt und Masseur Wolfgang Eder, Thomas Mai neben Wolfgang Bunz, Wolfgang Wirthmann eine Etage höher neben Oliver Bierhoff. Sie haben einen guten Blick.

Anpfiff.

Als Thomas Müller nach elf Minuten das 1:0 schießt, beugt sich DFB-Chefscout Urs Siegenthaler zu Wirthmann: "Jetzt schnell das 2:0 nachlegen." Als Miroslav Klose, zweimal Toni Kroos und Sami Khedira bis zur 29. Minute auf 5:0 erhöht haben, zwickt Tim Meyer seinen Nebenmann in den Arm: "Das ist ja noch besser als gegen Argentinien in Kapstadt." Damals, bei der WM 2010, gewann Deutschland gegen die Südamerikaner 4:0. Als Thomas Mai in der 42. Minute Richtung Kabine geht, sieht er weinende Menschen auf der Tribüne. Aus dem Getöse ist Stille geworden.

Deutschlands gnadenlose Tor-Show gegen Brasilien

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In der Pause ist es ruhig im deutschen Umkleideraum, trotz der schier unglaublichen Führung. Meyer hört Löw zu, der mahnt, jetzt nicht überheblich zu werden. Der Arzt verteilt die Getränke, der Zeugwart hat frische Trikots ausgegeben. Im Ehrengastbereich vibriert das Handy von Wolfgang Wirthmann. Schon jetzt melden sich die ersten, die nach Finalkarten fragen. "Jetzt stelle ich erst fest, wie viele Freunde ich habe", scherzt der Reisechef. Als er mit Oliver Bierhoff zu den Plätzen zurückkehrt, fehlen bereits viele ihrer brasilianischen Sitznachbarn. Sie sind schon gegangen.

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In der 70. Minute legt Thomas Mai seinem Kumpel Wolfgang Bunz einen Arm um die Schulter. Andre Schürrle hat gerade das 6:0 erzielt: "Mensch Bunzi, hättest Du gedacht, dass wir mal zu diesem Zeitpunkt so entspannt hier sitzen?" Bunz schüttelt den Kopf. Eine Etage höher geht Wirthmann im Kopf schon mal die Reisepläne für Rio durch. Er hat sie seit Tagen in der Schublade. Die Spieler durften davon nichts wissen. Auch das: Aberglaube.

Abpfiff.

Nachdem die Spieler ihre Ehrenrunde gedreht haben, geht Thomas Mai die Ersatzbank ab. Er sammelt Leibchen und Flaschen ein. Auch nach historischen Ereignissen muss aufgeräumt werden. Er schaut nach rechts. Auf der Anzeigentafel oben unter dem Dach flimmert ein Ergebnis, das er nicht glauben kann. Darunter feiern immer noch die deutschen Fans. Der Rest des Stadion ist leer.

Caipi in der Hand, Finale im Kopf

Die Rückreise verläuft unkompliziert und ohne großen Jubel. Spätnachts treffen sich Spieler und Betreuer im Campo Bahia noch an der Bar. Tim Meyer bestellt einen Caipirinha und freut sich auf eine Nacht ohne Feuerwerk. Bevor er einschläft, denkt er ans Finale.

Noch 114 Stunden bis zum Anpfiff.

So groß ist der Schmerz der brasilianischen Fans

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